In GRÜN ist immer markiert, was man sich kurzgefasst merken sollte und was als ÜBUNG zu Hause nachvollzogen werden kann (soll, muss, darf).

Kurzform:

Kennenlernen der 3 Linienarten GERADE, GEBOGENE, UNREGELMÄßIGE.
Haltung, Atmung, Beweglichkeit, Handhabung des Stiftes
Erste Beobachtungen der Schwerpunkte, Bildelemente und Richtungen im Format.
"Warmups" zu den den 3 Linienarten
- Gerade: "Kreuz und quer durch dick und dünn", Großformat aufrecht
- Gebogenene: "Die Eisprinzessin kurvt von Bande zu Bande", Großformat, aufrecht
- Unregelmäßige: "Zunehmend aufgewühlter"(seismographisch), Großformat, liegend

Ausführlich:

Die drei Linienarten

Alle Warmups bitte auf möglichst großem Bogen Papier (min A4, lieber größer) !

Wir haben 3 LINIENARTEN kennengelernt, die ihr zunächst separat erkundet habt und - das ist wichtig: Ab jetzt als Gestaltungsmittel in allen Zeichnungen einsetzen könnt! Nein, sollt und müßt - weil es nicht anders geht...

Die Gerade, Gebogene und Unregelmäßige

Beim Zeichnen gilt generell für alle Linien:

- Haltung: Eine gute Ausgangsstellung! Entspannt stehen und atmen ist ein guter Anfang. Am Besten wenn möglich also stehend vor dem auf dem Tisch liegenden Papier oder noch besser auf einem schräg aufrecht gestellten Brett (auf Staffelei zB) frei und ungehindert zeichnen.

- Das Licht sollte so auf eure Zeichenfläche fallen, dass ihr euch die Zeichnung nicht durch einen Schattenwurf verdunkelt.

- Macht euch vor dem ersten Strich die Dimension und Relation der Zeichenfläche (Hochformat, Querformat, Quadrat usw) immer bewußt, am Besten gleich am Anfang durch das umrahmende Festlegen des Spielfeldes.

Das wirkt zunächst erst einmal etwas stur, hat aber den Sinn, euch klar zu machen, dass ihr mit jedem Strich auf einem Blatt die Verhältnisse auf dem Blatt neu gestaltet, da sich jede Linie, jede Spur einer Zeichnung immer auch auf die Ränder des Blattes bezieht und in dieser Relation immer das Gestalten auch schon im kleinsten Element stattfindet. Das wirkt am Anfang übertrieben und vielleicht auch lächerlich, aber ich hoffe, ich konnte euch da und dort davon überzeugen, dass ihr durch die Platzierung der Linien/Flächen, Dunkelheiten, Verdichtungen oder Objekte ob bewußt oder unbewußt eine erste Entscheidung über Schwerpunkte, Richtung und damit Bedeutung des ganzen Bildes trefft.

- Haltet den Stift wie ihr wollt - aber probiert es häufiger, die uns vom Schreiben her vertraute Haltung des aufgestützten "Kontrollgriffs" zunehmend zu lockern, indem ihr den Stift entweder öfter mal weiter hinten greift oder sogar die Haltung komplett wechselt, wie die folgende Zeichnung zeigt:

Rechts der übliche Griff, der Kontrolle schafft. Links die Haltung des Werkzeugs, die große Freiheit und weite Schwünge ermöglicht.

Der übliche Kontrollgriff rechts ermöglicht zwar Präzision, die wir beim Schreiben brauchen, die wir aber beim freien Skizzieren eigentlich bewusst nicht suchen. Der aufgestützte Drehpunkt der Hand begrenzt zu sehr den Radius der Aktion.
Der freie Schwung im großen Radius sogar bis über die Körperdimension hinaus wird durch die Haltung links ermöglicht.
Probiert einfach alle Haltungen und die Zeichenabstände aus, indem ihr alle möglichen Stifte mal vorne, mal in der Mitte oder möglichst weit hinten in verschiedenen Griffen einsetzt.

- Zeichnet immer konzentriert und nicht flüchtig oder linkisch. Lasst euch Zeit und zeichnet selbstbewußt. Lasst keinen beliebigen, schlampigen Anfang oder Ende zu, sondern setzt immer ganz bewußt und mit Aufmerksamkeit für eure innere Spannung und Stimmung die Linien, gleich ob Gerade, Gebogene oder Unregelmäßige! Besonders bei der Geraden ist es hilfreich, sich klar einen Startpunkt und ein Ziel zu setzen - ob man es trifft, spielt zunächst keine wichtige Rolle, der Vorsatz - wie im echten Leben - zählt hier erst mal mehr...

- Jede Linie hat außer ihrer Art (gerade, gebogen, unregelmäßig) und ihrem Ziel (zielend heraus/weg oder zu sich zurückkehrend oder irrend, tastend, suchend) auch noch die Möglichkeit,

entweder

stark, kräftig, fett oder schwach, fein, zart

groß oder klein , kurz oder lang sowie

schnell oder langsam ausgeführt

zu sein!

Linienqualität nennen wir das.

TIP: Übersetzt das versuchsweise einmal beim experimentierenden und improvisierten Zeichnen in eurem Innern in musikalische Formen - oder hört gar eine etwas komplexere Musik dazu und übersetzt diese in abstrakte Zeichen aus Bögen, Strichen, Punkten staccato versus legato - piano versus forte - lento versus presto gesetzt!

John Cage - music

Diese Qualitätskontraste sind unser erstes und wichtigstes Gestaltungsmittel, mit dem wir eine Abstraktion von DYNAMIK, ABWECHSLUNG, GEGENSATZ und sogar RAUM schaffen - und damit wichtige Elemente unserer Zeichnungen!

Welche inneren und äußeren Bedingungen diese Unterschiede verursachen, werden wir im Laufe der Zeit erleben und erarbeiten. Einen wichtigen Faktor habt ihr in der ersten Stunde kennengelernt, indem ihr eine Verbindung hergestellt habt zu euren emotionalen Zuständen, die sich u.a. auch in Linienqualitäten äußern.

TIP: Versucht einmal den Geraden, Gebogenen und Unregelmäßigen Kraft, Zuversicht, Zögern, Unsicherheit, Mut oder Wut mitzugeben und ihr werdet spontan einen Reichtum der Linienqualitäten erleben!

- Noch etwas, an das man nie denkt, das aber immer mitgestaltet: Atmet beim Zeichnen bewusst! Versucht einmal einen atemzuglangen Strich oder eine Kurve....

Die Gerade:

Sie beginnt klar und bewußt an einem Punkt und sucht den direkten Weg zu ihrem Zielpunkt. Sie greift zielend aus, zieht weg und heraus, trennt klar und scharf das Feld, eine gewisse Klarheit, aber auch eine Strenge und Schärfe, ja gewissermaßen (meist gutgemeinte) "Aggression" ist ihr eigen.
Sie ist Trenner, Vektor, Strahl, Schnitt, Cut, Ecke, Weg, Kante, Grenze, Kühle, Härte, Schärfe, Klarheit, Lineal, Perfektion, Konstruktion, Gedanke - messend und vergleichend...

Macht bitte den Versuch und setzt beim Zeichnen der Geraden zunächst jedesmal einen klaren Startpunkt A, fasst durch Markierung einen Zielpunkt B ins Auge und schaut beim Zeichnen nicht den Weg, sondern das ZIEL genau an, das ihr nicht unbedingt immer treffen müßt - aber: Es gibt der Linie eine Bestimmtheit und Richtung, auf die es ankommt.

Aufgabe: "Kreuz und quer durch dick und dünn", minimum A4 oder größer, alle Stifte in dick und dünn. Bitte wie oben gesagt auf Dimension/Spielfeld sowie Linienqualität achten!

Wachsstift mit Spitze und Breitseite

Wachsstift, Spitze gezielt von A nach B

Aus dem Kurs:

Einige Beispiele dazu aus der Kunstgeschichte:

Ich versuche, zu den Übungen Anregungen auch aus der Praxis von Künstler und Künstlerinnen zu finden, die euch inspirieren sollen, die ihr auch gerne nachahmen, aber vielleicht nicht peinlich genau kopieren sollt, lieber nach dem Motto: "Schauen, klauen, besser machen..." (Zitat: ANNEKE KIM SARNAU Ach, ich sage immer: schauen, klauen, besser machen!)

Lionel Feininger (Wikipedia Artikel über ihn: https://de.wikipedia.org/wiki/Lyonel_Feininger)

Seht euch bitte aber auch seine Malerei an, die sehr stark linear geprägt, vom Kubismus inspiriert ist:

Die Gebogene:

Die gebogene Linie ist eine gerundete, im oder gegen den Uhrzeigersinn zu sich zurückkehrende Linie, die zu Ende gedacht zwar immer eine Kreisform impliziert, die aber nicht immer zu Ende gezeichnet werden muss! Dann nennt man sie Kurve, oder Bogen. Ihr eignet etwas um sich Kreisendes an, das sich entweder spiralig herauswindet oder zu sich zurückkrümmt.

Mit den besonderen Formen des Kreisbogens OVAL und ELLIPSE werden wir uns zu gegebenem Anlass genauer beschäftigen - üben kann man sie aber immer auch jetzt schon...

Die Gebogene ist:
Das Organische, das Weiche, das Wellenförmige, das Schwingen, das Schöne (dazu später mehr: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Analysis_of_Beauty), das Vibrieren, Ausweichen, einen Bogen machen, Umfahren, Ausschweifende, Sinnliche, das Konzentrische, radial Ausgreifende ist ihr eigen.

Die Bögen haben verschiedene Radien, nähern sich in einem Extrem fast der Geraden an, im anderen Extrem dem Punkt, dem "Kringel" - alle diese Bögen sind zulässig als irgendwie gebogen, krumm. Versucht herauszufinden, von welchem Startpunkt aus ihr euch sicher fühlt, den Kreisbogen zu seiner Rückkehr zu sich selbst zu bringen. Ich persönlich spiele gerne mit den angenommenen Startpunkten eines gedachten Ziffernblattes und finde heraus, dass es sich bei 10 Uhr rechtsherum anders biegt, als ab 7 Uhr linksherum. Probiert es aus!

Aufgabe: "Kreiselnd bewegt" und "Eisprinzessin kurvt von Bande zu Bande" - Minimum A4, umrandetes Spielfeld, alle Stifte in dick und dünn und mit unterschiedlichem Druck

Aus dem Kurs:

Einige Beispiele dazu aus der Kunstgeschichte (Picasso, Matisse, Modigliani):

Die Unregelmäßige:

Dass sie eine eigene Art hat, zeigt sich schon bei den ersten Versuchen, sie zu zeichnen: Sie hat natürlich Elemente der beiden oben vorgestellten Arten und bedient sich bei beiden - aber halt unregelmäßig...

Sie greift aus wie die Gerade, aber nicht so bestimmt, eher zögerlich, eher sich wieder zurücknehmend, sie kann sich wie der Bogen plötzlich und grundlos in andere Richtung krümmen und gleich wieder ins Gegenteil umschlagen, sie umfährt, windet sich, schlängelt sich, stößt an, kehrt um und geht doch schleichend auf Umweg voran, hat scheinbar kein Ziel und geht doch fast unbemerkt wohin - maW: Es ist die "Dramaqueen" der Linien!

Was sie absolut für Kunst prädestiniert. Und was sie so spannend macht. Was mich selbst immer wieder beim Zeichnen gespannt zuschauen läßt, was denn aus ihr werden will.

Sie ist eigentlich die Grundlinie des Abenteuers und der Überraschung und damit eine eigene Welt.

Sie hat die Regeln der beiden anderen, aber verläßt sie unberechenbar nach Belieben. Etwas Unbestimmtes hat sie, oder durch Widrigkeiten Abenteuerndes hat sie, sie hat aber auch etwas Wachsendes, Strömendes, Windendes, was sie zur Verbündeten der Natur macht - wir werden es sehen und erleben!

Aufgabe: "Zunehmend aufgewühlter", min. A4, alle Stifte in dick und dünn. Teilt den waagerecht über- oder untereinander angelegten Linien eine zunehmende Aufregung mit, wie ein EKG oder die seismische Linie eines sich ankündigend Ausbruchs - oder umgekehrt: Einer Beruhigung...

Aus dem Kurs:

TIP:

Habt ihr nun eine ganze Menge an Bögen voller lebendiger Lineaturen geschaffen, könnt ihr euch mit einem kleinen, aber effektiven "Gestaltungtrick" eine Belohnung schaffen, die den Gedanken der Gestaltung des Spielfeldes einfach umkehrt:

Schneidet euch aus einem Bogen Karton entweder ein sog. Passepartout, also ein viereckiges Loch oder eine Form ( Kreis, Oval, Quadrat, Figur) aus und legt dieses Passepartout über interessante Stellen eurer Muster und Linien, fotografiert diese und sammelt auf diese Weise interessante Linienqualiäten!
Und wenn ihr mögt, stellt ein paar Aufnahmen davon in unsere WhatsApp-Gruppe. Unversehens kann daraus eine schöne, kunstvolle Sammlung seltener Liniengewächse und Getier werden...